Blindheit und Blind-Sein

Grünes Licht.

Ein Summen geht an.

Ich gehe über die Ampel, überquere die Straße.

Sie auch.

Ich spüre die neue asphaltierte Straße unter meinen leichten Barfussschuhen.

Sie auch.

Ich höre die Bauarbeiter nebenan, höre wie sie ihre Arbeit tun.

Sie auch.

Ich schaue auf das  renovierte Haus, sehe den Unterschied, staune darüber, grinse über den alten Baum, der wie als ein Zeichen der Rebellion noch immer genauso nebenan steht und immer sich noch immer mit all seinen Blättern traurig fallen lässt und protestierend gegenüber Veränderungen eben gleich bleibt.

Ich schau dieses Bild an und sehe die Handwerker werkeln und die Bauarbeiter bauen und die Fußgänger über die Straße laufen und blicke sie an-und sie?


Sie nicht.

 

Sie schaut nicht.

Sie sieht nicht.

Sie hat einen langen Stab in der Hand und klopft, berührt beinahe mein Bein mit der Spitze.

Ich lächele ihr zu, aber auch das sieht sie nicht.

Sie sieht... ich weiß nicht, was sie sieht- (  wie können wir blinde Menschen eingrenzen, indem wir sagen, sie würden Nichts sehen- wie sieht denn das Nichts aus? )

Sie  selbst sieht jedenfalls hübsch aus- das lange Haar in einen Knoten gebunden, der Rock perfekt auf die Jacke abgestimmt, die Sonnenbrille passend zu den Akzenten der Handtasche. Sie trägt Blumen in der Hand- die Exquisitesten und Buntesten, die der Laden wohl zu verkaufen hatte.

Jemand muss mit ihr zusammenwohnen und sich sagen, dass sie zwar nicht sehen kann, aber andere sie gerne anschauen sollten und dieser jemand, muss ihr auch verholfen haben,  ohne zu sehen, die schönsten Blumen auszuwählen.


Über diesen Gedanken muss ich erneut lächeln. Vielleicht ist das auch ein Protest. Ein Protest gegen die eigene Machtlosigkeit. Ein  Protest gegenüber dem Zustand, nicht zu sehen, was andere sehen und eben nicht zu wissen, wie man aussieht. Ein Protest.

"Ich würde gerne den Menschen kennenlernen, der ihr bei ihrem Protest hilft.", denk ich mir im Stillen, als sie neben mir auf den Bürgersteig tritt.

Und ich werde traurig für diejenigen, die keinen Pfleger haben, der Wert darauf legt, dass ihr Patient ebenso hübsch gekleidet ist und ebenso zurecht gemacht aussieht und ebenso ein Recht auf Schönheit hat.  Ich werde traurig für diejenigen, denen man nur einen Grashalm in die Hand drückt, wenn er um einen Strauß von Gerberes bittet- er sehe es doch eh nicht.

Und dann denk ich, dass es hier nicht nur um Blindheit geht, sondern um einen sehr viel weiteren Blick. Einen Weiteren als nur den, überhaupt einen Blick haben zu können.

Es geht doch um jeglichen Menschen, mit dem wir zusammen sind und bei dem wir aufgehört haben, uns Mühe zu geben. " Er sieht es doch sowieso nicht. Er bemerkt es ja doch nicht. Ihm ist es doch ohne hin nicht wichtig. "

Das macht mich traurig.


Und ich schreibe heute noch eine SMS an einen Menschen, bei dem ich aufgehört habe, ihn protestieren zu lassen gegen Freundschaften und Beziehungen, in denen man ein " ach das passt schon so " lebt.

Ich protestiere.

Gegen Blindheit, die nicht gesehen werden darf!

Denn es gibt Menschen, die blind sind.

Und es gibt Menschen, die sich blind machen.

Und es gibt Menschen, die sich keine Mühe mehr machen.

Und es gibt Menschen, die würden gerne Schwertlilien in der Hand halten oder Pfingstrosen oder Orchideen...